Ich werde oft gefragt, was zur Hölle ich denn um diese Zeit da schon wolle, es würde doch auch Stunden später immer noch genügend Plätze geben und andere machten das doch auch nicht. Selbst mir sehr Nahestehenden fehlt das Verständnis dafür, bei jedem Heimspiel schon um 12 Uhr am Stadion zu sein, eineinhalb Stunden bevor überhaupt die Tore geöffnet werden. Ich verstehe sehr wohl, dass man das wohlwollend formuliert etwas komisch finden kann, aber so einfach ist das natürlich nicht. Einen großen Anteil hat auf jeden Fall auch der Ort des Geschehens und die Rolle, die dieser Ort seit 30 Jahren in meinem Leben spielt. 

Ich war elf Jahre alt, als mein Vater mich zum ersten Mal an diese Stätte mitnahm. Letzter Spieltag der Zweiten Liga 1986: Der SC wie immer tief im Abstiegskampf und gegen Union Solingen musste ein Sieg her, um nicht abzusteigen. Fasziniert von der Atmosphäre auf der damals aus Holzbänken bestehenden „Hintertortribüne“ (heute „Süd“), verstand ich nicht wirklich, wieso Torhüter Grüninger noch während des laufenden Spiels beim Stand von 3-1 (doppelter Torschütze übrigens ein gewisser Jogi Löw!) aus Freude seine Torwarthandschuhe ins Publikum warf. Erst im Laufe der Jahre wurde mir bewusst, wie entbehrungsreich und hart diese Zeit für den damals selbst in der Stadt recht unbeliebten und wenig beachteten SC gewesen sein muss. Der FC war trotz Drittklassigkeit die Nummer eins. Das änderte sich jedoch in den folgenden Jahren. 

Doch das Dreisamstadion blieb zuerst einmal wie es war. Eine stolze Haupttribüne, die berühmte Hintertortribüne aus Holz, die Gegengerade mit sehr hohen Stufen ohne Dach, die fünf Reihen Stehplätze auf Nord. Der Zuschauerzuspruch blieb noch einige Jahre, von Ausnahmen abgesehen, wenn z.B. der KSC kam oder es gegen Schalke 04 ging, sehr mäßig. Selten kamen mehr als 3.000 bis 4.000 Zuschauer. Auch die Stimmung war überschaubar, mehr als ein treibendes „HoppHoppHopp“ gab es kaum. 

So ziemlich alles änderte sich mit der Saison 1991/92. Die zweite Liga war aufgrund der neuen Vereine aus dem Osten zweigeteilt, der SC spielte in der Südstaffel und er spielte plötzlich tollen Fußball. Bei einem 6-0 gegen Rot-Weiß Erfurt wollte ich dann auch unbedingt zu den „Fans“ auf Nord stehen, zu den 50 bis 100 Unentwegten, die den SC anfeuerten, auf ihren fünf zugigen und nassen Stufen. Seit diesem Tag stehe ich auf Nord. So viel zur Routine. Alles andere was nun geschah, ist bekannt und war alles andere als Routine, vor allem sportlich setzte diese Mannschaft von Volker Finke Maßstäbe, vielleicht sogar für den gesamten deutschen Fußball. Aber ab jetzt veränderte sich auch das Dreisamstadion. Gab es Ende der 80er Jahre noch Spiele gegen Schalke, wo sich die Gästefans einfach im gesamten Stadionbereich verteilten (die Mehrheit waren sie ja ohnehin), musste nun einiges verändert werden. Zu Beginn meiner Zeit auf Nord war ich oft so früh mit dem Zug angereist, dass ich mir zuerst einmal meinen Platz am Zaun hinter dem Tor sichern konnte, dann erst wieder auf die Südseite zum damals noch einzigen (!) Eingang spazierte und mir meine Eintrittskarte kaufte, obwohl ich schon eine Stunde im Stadion verbracht hatte. Das Stadion war einfach offen, kontrolliert wurde erst später. 

Die Entwicklung ging nun rasend, der Aufstieg brachte die ersten großen Veränderungen. Plötzlich gab es offizielle Einlasszeiten, wir Kinder rannten dann immer um die besten Plätze, wohlgemerkt, von Süd, hinter der Haupttribüne entlang auf die Nordseite. Und plötzlich gab es Stimmung. Durch die Überdachung der Gegengerade wurden die Äußerungen und Gesänge nicht mehr aus dem Stadion in Richtung Zartener Becken oder vom Höllentäler in die Stadt getragen. Es wurde laut. Und mit dem Aufstieg waren plötzlich alle Spiele mit 15.000 Zuschauern ausverkauft, nachdem der Zuschauerschnitt selbst im Aufstiegsjahr noch bei ca. 8.000 gelegen hatte. Auch optisch machte nun das Stadion etwas her, die Begriffe „Schmuckkästchen“ und „Hexenkessel“ machten die Runde. 

Nach dem sensationellen Klassenerhalt im ersten Bundesligajahr erfolgte auch schon die nächste Erweiterung. Die Haupttribüne wurde zur Saison 1994/95 um 2.500 Plätze erweitert. Die Nachfrage nach Karten blieb weiterhin enorm und erreichte in dieser Saison ihren Höhepunkt, denn der SC spielte die beste Runde der Vereinsgeschichte und belegte einen sensationellen dritten Rang. Zum Kartenvorverkauf der Heimspiele pilgerten die Massen, teilweise mit Zelten und Schlafsäcken schon Tage vor Vorverkaufsbeginn an die Dreisam, um an Freiburgs damals „härteste Währung“ zu gelangen. Mit Erreichen des UEFA-Cups wurde die altehrwürdige Hintertortribüne mit Ihren wenigen hundert Sitzplätzen in die Mischtribüne aus Steh- und Sitzplätzen umgebaut, die auch heute noch als „Süd“ besteht. Da der Platz aber ohnehin schon eng begrenzt war und die direkt angrenzende Schwarzwaldstraße eine horizontale Erweiterung verhinderte, wurde die neue Süd vielleicht sogar zu einer der steilsten, zumindest aber eine der, im Verhältnis zur Höhe, platzsparendsten Tribünen in der Bundesliga. Das Stadion fasste nun 22.500 Zuschauer und das sollte nun ein paar Jahre der Status Quo sein. 

Eine weitere Vergrößerung scheiterte zunächst an einer ganzen Palette von Problemen. Die Anwohner der eher beschaulichen und betuchteren Umgebung wollten nicht, dass sich noch mehr grölende und in Gärten urinierende Fans in ihrem Wohngebiet tummelten und selbst die SC-eigene Tennisabteilung wollte ihre direkt hinter der Nord gelegenen Tennisplätze auch nicht einfach so aufgeben (was übrigens manch erfahrenem „Nordsteher“ durchaus zu Gute kam, konnte man sich bei abflachendem Spielgeschehen immerhin noch umdrehen und einem spannenden Tennismatch folgen, was einige alte Hasen angeblich heute noch manchmal sehr vermissen sollen!). Entscheidend war aber wohl, dass nach Jahren des sportlichen Auftstiegs nun zum ersten Mal seit langem eine sportliche Delle die Geschichte des SC prägte. Der erste Abstieg war jedoch schnell verdaut und zwei Jahre nach dem direkten Wiederaufstieg konnte endlich die letzte große Lücke geschlossen werden. Endlich gab es auf Nord eine richtige Fantribüne für 6.000 Fans mit Dach, die jahrelangen bangen Blicke auf den Wetterbericht gehörten der Vergangenheit an. Gleichzeitig wurde auch die legendäre Gegengerade umgebaut, die Stehplätze im unteren Bereich fielen weg und es wurde eine reine Sitzplatztribüne, die heutige Osttribüne. Auch wenn die Erbauung der Nord bis heute eine sehr wichtige Rolle bei der Entwicklung für die SC-Fans spielte und immer noch spielt, gibt es doch auch viele, die mit dem Verschwinden der Stehplätze auf der Gegengerade die ureigene Stimmung im Dreisamstadion verschwinden sahen und diesem Verlust nach wie vor mehr als nur eine Träne nachweinen.

Und so steht es nun heute noch da, Kleinigkeiten kamen und gingen, Änderungen hielten Einzug, sogar der Name wurde immer mal wieder geändert, „Mage-Solar“ oder „Badenovastadion“ kamen einem echten Fan aber genauso wenig über die Lippen, wie der derzeitige offizielle Name „Schwarzwaldstadion“. Für uns ist und bleibt es für alle Zeiten das Stadion an der Dreisam. All die Enttäuschungen und Begeisterung, die Ekstase und die Wut, all das werden wir hier an diesem Ort zurücklassen. Nicht zuletzt für mich und meine Generation auch ein halbes Leben zwischen unbeschwerter Kindheit und grauen Haaren. 

Ein ganzes Buch könnte ich noch mit Anekdoten und Geschichte(n) rund um diese Stätte schreiben, das würde aber diesen Rahmen sprengen. Vielleicht komme ich auch aus diesem Grund jedes Mal immer noch ein bisschen früher, es wird bald das letzte Mal gewesen sein – vorstellen kann ich es mir beim besten Willen nicht!

ÜBER DEN AUTOR

Michael Opitz ist seit den 80er Jahren treuer Besucher des Dreisamstadions.